«Heute würde Haushaltszucker nicht mehr zugelassen»

Die Mit-Autorinnen des heute veröffentlichten «Zuckermanifests» Bettina Wölnerhanssen und Anne-Christin Meyer-Gerspach sehen in Steuern und Werbeeinschränkungen für Zucker eine «Riesenchance».

2.05.2023
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Bettina Wölnerhanssen und Anne Christin Meyer-Gerspach | Bilder: PD
Heute stellte die «Allianz Ernährung und Gesundheit» ihr «Zuckermanifest» vor. Darin schlagen Fachleute aus Medizin und Wissenschaft staatliche Eingriffe zur Verminderung des Zuckerkonsums vor – etwa Werbeeinschränkungen, Steuern auf entsprechenden Produkten, eine bessere Deklaration und mehr Aufklärungsarbeit.
Die beiden Mit-Autorinnen PD Dr. med. Bettina Wölnerhanssen und PD Dr. phil. II Anne Christin Meyer-Gerspach verweisen im Gespräch darauf, dass sie als Wissenschaftlerinnen keinen Zweifel daran haben, dass der übermässige Zuckerkonsum «griffige Massnahmen» erfordert. Sie sind Co-Leiterinnen der Metabolen Forschung zu Stoffwechselerkrankungen am St. Claraspital in Basel und Privatdozentinnen an der Universität Basel.
Welche Postulate enthält das von Ihnen mit mitverfasste Positionspapier «Zuckermanifest»? Und an wen richten Sie sich damit?
Das Manifest richtet sich an die Politik. Wir fordern darin einen besonderen Schutz der Kinder mit Beschränkungen des Angebotes, zum Beispiel in Schulkantinen und in der Werbung, die direkt an Kinder gerichtet ist. Weiter braucht es für mehr Transparenz dringend eine bessere Deklaration auf den Waren und breite Aufklärungskampagnen. So kann gewährleistet werden, dass zumindest jede Konsumentin und jeder Konsument ohne grossen Aufwand erkennen kann, welche Produkte wie viel Zucker enthalten und – mit dem entsprechenden Wissen über die Auswirkungen – einen bewussten Entscheid fällen kann.
Vermeintlich Gesundes – etwa Joghurts, die viel Zucker enthalten – soll nicht als gesundes Produkt beworben werden dürfen. Und schliesslich fordern wir eine Besteuerung auf Süssgetränke – wie sie in vielen Ländern bereits üblich ist.
Deutscher Werbespot für Zucker von 1954 | Quelle: Youtube
Wie beurteilen Sie die bisherigen Bemühungen der Schweizer Lebensmittelindustrie zur Zuckerreduktion? Zum Beispiel die Mailänder Erklärung?
Es ist erfreulich, dass etwas geht. Doch es geht zu wenig weit. Es ist grundsätzlich ein guter Ansatz, dass die Mailänder Erklärung erweitert worden ist und man neu auch bei den Süssgetränken ansetzt. Das wird aber nicht ausreichen. Die unterzeichnenden Unternehmen einigen sich darauf, bis 2024 zehn Prozent des Zuckergehaltes in ihren Produkten zu reduzieren.
Trotz Reduktion wird aber immer noch zu viel Zucker in den Produkten enthalten sein, und dieser Zucker ist immer noch schädlich. Sollte das Produkt mit der Information «Zucker-Reduktion» versehen werden, stellt sich die Frage, inwiefern Konsumentinnen und Konsumenten sogar mehr Zucker konsumieren werden. Die Unternehmen müssen sich bewusst sein, was für eine Verantwortung sie haben. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!
Erklärung von Mailand
Welche gesundheitlichen Probleme löst zu grosser Zuckerkonsum aus?
In der Schweiz leiden heute laut Bundesamt für Gesundheit 2,2 Millionen Menschen an nicht übertragbaren Krankheiten (NCDs) wie Übergewicht, Zuckerkrankheit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und neurodegenerativen Erkrankungen.
Sämtliche dieser Krankheiten stehen entweder direkt oder indirekt (etwa durch Übergewicht) im Zusammenhang mit überhöhtem Zuckerkonsum. Zu einer gesunden Ernährung zählt eine möglichst geringe Menge an freiem Zucker nebst einem vielseitigen Angebot an frisch zubereiteten, wenig verarbeiteten Lebensmitteln mit einer hohen Qualität der Ausgangsprodukte.
Wann ist Zuckerkonsum «überhöht»?
Gemäss Weltgesundheits-Organisation WHO bei über 50 Gramm Zucker pro Tag im Falle von Erwachsenen. Bei strengerer Auslegung sollte der Konsum nicht mehr als 25 Gramm pro Tag betragen. Wird mehr konsumiert – was insbesondere beim Konsum von zuckerhaltigen Getränken deutlich zu beobachten ist –, dann kann das gemäss einer Fülle von epidemiologischen Untersuchungen und klinischen Interventionsstudien mit einem erhöhten Risiko für verschiedene NCD in Zusammenhang gebracht werden. Dadurch ist nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen eingeschränkt, sondern es kann effektiv auch eine erhöhte Sterblichkeit beobachtet werden.

«Leben retten und Gesundheitskosten einsparen»

Den Schaden trägt einerseits der Einzelne über Leid und Kosten, andererseits aber auch die Gesamtbevölkerung über höhere Gesundheitskosten. Demgegenüber ist eine Reduktion des Zuckerkonsums eine einfache, effektive und kostengünstige Massnahme. Mit anderen Worten: Wir haben eine Riesenchance hier für die Gesamtbevölkerung, um gleichzeitig die Lebensqualität zu verbessern und Gesundheitskosten einzusparen.
Welche Produkte sind dafür in erster Linie verantwortlich?
Zuckerhaltige Getränke machen mit fast 40 Prozent einen grossen Teil des Zuckerkonsums in der Schweiz aus. Süssgetränke sind von der Matrix her ungünstig: In kurzer Zeit kann sehr viel Zucker aufs Mal konsumiert werden, der vom Körper sofort aufgenommen wird. Süssigkeiten machen gemäss der Erhebung «menuCH» rund 50 Prozent des Zuckerkonsums aus. Zusammen ist das der Löwenanteil.
Gezuckerte Frühstückscerealien, Milchprodukte et cetera sind hingegen für einen kleineren Teil verantwortlich, nämlich circa 7 Prozent. Bei diesen Produkten ist es aber besonders stossend, dass sie oft irreführenderweise als gesund angepriesen werden. Idealerweise würden einerseits Süssgetränke und Süssigkeiten besteuert, gezuckerte Joghurts und Müesli andererseits entsprechend gelabelt, also ohne Gesundheitsanpreisungen.
Gibt es wissenschaftlich fundierte Beweise, dass gesetzliche Restriktionen von Zuckergehalt in Lebensmitteln Übergewicht vermindern?
Ja, sie sind wirksam. Es gibt zahlreiche Publikationen, die zeigen, dass eine Zuckersteuer den Süssgetränkekonsum reduziert. Gute Beispiele sind Studien aus Oakland und Seattle nach Einführung einer Steuer. Eine Studie der Universität Cambridge stellte bereits nach kurzer Zeit – genauer 19 Monate nach Einführung der Massnahmen in Grossbritannien – feststellen, dass Schülerinnen im Alter von 10 bis 11 Jahren weniger übergewichtig waren.
Bis eine Restriktion tatsächlich messbare Resultate liefert, dauert es allerdings eine Weile. Das Hauptziel, eine gesündere Bevölkerung, kann aber ohne Zweifel dadurch erreicht werden.
Gibt es Studien, die eine solche Verminderung durch Werbe- oder Verkaufsverbote aufzeigen?
Man könnte es umgekehrt formulieren: Studien belegen, dass an Kinder gerichtete Werbung ganz klar zu mehr Konsum führt. Das ist ja auch sehr gut nachvollziehbar: Die Lebensmittelindustrie würde kaum Geld und Energie in Werbung, Product-Placement, Gadgets und Werbegeschenke an Kinder investieren, wenn es sich nicht rechnen – sprich: mehr konsumiert – würde.
«Unglaublich ist auch, dass in der Schweiz der Zuckerrübenanbau mit Subventionen gestützt wird. Wir bezahlen also als Allgemeinheit zweimal.»
Für uns ist klar: Es besteht Handlungsbedarf, denn freiwillige Massnahmen reichen nicht aus. Freiwillige Massnahmen der Industrie haben bereits in anderen Ländern versagt, zum Beispiel in Deutschland. Der vielbesungene freiwillige Appell an die Verantwortung des Einzelnen funktioniert in diesem Kontext ausserdem nicht, weil es sich bei Zucker um eine suchterzeugende Substanz handelt, weil dessen Deklaration nicht eindeutig ist, und weil das Wissen um die schädliche Wirkung und die grosse Bedeutung für die Volksgesundheit fehlt.
Was hat Sie bei der Durchsicht der relevanten Studien zu diesem Thema erstaunt?
Erstaunlich ist, dass die Fülle an Erkenntnissen über die negativen Auswirkungen des Zuckerkonsums nicht schon viel länger zu griffigen Massnahmen geführt hat. Würde man heute versuchen, für ein Produkt wie den Haushaltszucker eine Marktzulassung zu erhalten, wäre das schwierig bis unmöglich.
Der Nutzen – ein kurzes Glücksgefühl – steht der langen Liste von Risiken und Nebenwirkungen gegenüber. Unglaublich ist auch die Tatsache, dass in der Schweiz der Zuckerrübenanbau mit Subventionen gestützt wird. Wir bezahlen also als Allgemeinheit zweimal: Zuerst unterstützen wir die Produktion, dann tragen wir alle die Folgekosten.
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