«Wissenschaftlicher Nonsens»: Werbeverbote sind Glaubenssache

Die deutsche Lebensmittelindustrie suchte nach seriösen Studien zur Wirkung von Werbung aufs Ernährungs-Verhalten. Und fand: nichts.

13.06.2023
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Liegt es wirklich an der Werbung? Oder an anderen Faktoren? Kleinkind mit Zuckerding. Bild: Henley Design Studio on Unsplash von: on Unsplash
Der Streit läuft in Deutschland schon seit Monaten – und er wird auch in der Schweiz von der Lebensmittel-, Handels- und Werbebranche mit betroffenem Interesse verfolgt: Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) will jegliche Werbung für ungesunde Lebensmittel im Umfeld von Kindern verbieten; unter anderem soll in Deutschland TV- oder Radio-Werbung für Ungesundes zwischen 6 und 23 Uhr untersagt werden, wenn es sich um Formate handelt, die auch für Kinder interessant sind (mehr).
Der breite und allgemeine Anspruch – der auch Influencer trifft und regelrechte Bannmeilen in der Gegend von Krippen, Kindergärten und Schulen vorsieht – hat die Industrie aufgeschreckt.
So greift die Lebensmittelindustrie das Vorhaben nun frontal an. Denn Minister Özdemir beruft sich bei seinem Projekt auf wissenschaftliche Studien, welche Zusammenhänge zwischen Werbung und der Gesundheit respektive dem Gewicht von Kindern nachweisen. Im Auftrag des Lebensmittelverbands untersuchten nun zwei Forscher genau diese Studien. Konkreter: Sie beobachteten alle Forschungsarbeiten, die von den Politikern und Beamten in der Debatte aufgeführt werden.
  • Katharina Schüller, Walter Krämer: «Wissenschaftliches Gutachten zur Wirkung von Werbung auf die Ernährung von Kindern», Stat-Up, Lebensmittelverband Deutschland, München und Dortmund, Juni 2023.
Das Fazit: Belegt ist wenig bis gar nichts. Es gebe «keine wissenschaftlich-statistische Basis in der Literatur», die einen kausalen Einfluss von Werbung für ungesunde Lebensmittel auf die Gesundheit von Kindern darlegt.

«Zweifelhafte Annahmen»

«Man muss sich schon sehr wundern», lässt sich Walter Krämer zitieren; der emeritierte Professor für Ökonomie ist einer der Autoren der neuen Übersichtsstudie: «Sämtliche von uns untersuchten Studien beruhen auf zweifelhaften Annahmen, sind oft methodisch schwach und von fragwürdiger Qualität – oder haben einen ganz anderen Forschungsgegenstand. Statt schlüssiger Beweise stützen sich viele Arbeiten auf Schätzungen und Scheineffekte, die wissenschaftlicher Nonsens und kaum geeignet sind, ein Werbeverbot für Lebensmittel zu rechtfertigen.»
Grundsätzlich gebe es zwei Gruppen von Studien, welche für die Werbeverbote angeführt werden:
  • Entweder solche, die wegen methodischer Mängel kaum auf den Alltag übertragbar sind;
  • oder solche, die von Befürwortern eines Werbeverbots missinterpretiert werden – und offensichtlich nur als Alibi in der öffentlichen Diskussion dienen.
«Die Evidenz eines unmittelbaren, kausalen Zusammenhangs zwischen der Werbeexposition von Kindern und vermehrtem Übergewicht bis hin zu Adipositas ist nicht gegeben», so ein Fazit der Autoren. Weder sei eine nachhaltige Wirkung von Werbung auf den vermehrten Verzehr von sogenannten HFSS-Lebensmitteln (high in fat, salt or sugar) bei Kindern wissenschaftlich klar belegt, noch stelle überhaupt irgendeine Studie einen kausalen Zusammenhang zu Übergewicht her.
Im Gegenteil: Dieser Zusammenhang werde sowieso fast gar nicht untersucht. Im Kern der genannten Studien stünde bloss der zeitlich stark begrenzte Konsum ungesunder Lebensmittel durch Kinder, nachdem diese mit HFSS-Lebensmittel-Werbung konfrontiert waren.

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