Nachhaltig, aber wirklich: 10 konkrete Projekte, die überzeugen

Man mag sie kaum noch hören, all die blumigen Nachhaltigkeits-Ankündigungen der Unternehmen. Darum hier einige Perlen, die sehr greifbar sind. Und meist verblüffend simpel.

10.10.2022
letzte Aktualisierung: 7.05.2024
image
Thema Plastik: Screenshot aus dem Imagefilm «77 Earths» zur Plastik-Politik von Corona.
150'000 Beiträge zum Stichwort «nachhaltig» zählt die Schweizer Mediendatenbank für die letzten zwei Jahre. Ziehen wir Mehrfachzählungen ab, sind es noch immer 120’000. Also rund 200 täglich.
Nachhaltigkeit ist nicht nur in aller Munde. Unternehmen in der ganzen Welt schreiben es sich auf die Fahne und in die PR-Botschaften – auch wenn es lediglich darum geht, die Fahrzeugflotte auf Strom umzustellen oder eine Plastik- durch eine Papieretikette zu ersetzen.

Entweder Greenwashing

Nicht selten endet das Abstrampeln an den Nachhaltigskeitsgeboten in «Greenwashing». Dabei wird etwa ein neues Produkt aus 50 Prozent rezykliertem Rohstoff schon mal als Retter der Welt dargestellt. Obwohl es nicht mehr als ein Feigenblatt im Sortimentsdschungel bleibt.
Die Liste der Unternehmen, die laut Kritikern grün waschen, wächst fast täglich: H&M, Ikea, Coca-Cola, Nestlé, Unilever, Shein…

Oder «Purposeful Business»

Oder aber man baut zuerst einmal das Unternehmen um. Zuerst wird Nachhaltigkeit in die Best Practices hineingeschrieben. Dann definiert der frisch eingestellte Chief Sustainability Officer Next Practices als Zielstrategien für CSR und ESG. Darauf folgt die Aktivierung mittels neuer Leadership-Kompetenzen. Visionen entstehen, um Kooperation, Integration und Vertrauen zu schaffen. Berater werden hinzugezogen. Eine Beratungsbranche entsteht. Sie kreiert neue Ausdrücke: Klimapositivität, Reputationsrisiko, Risikoposition, Purposeful Business.

Oder einfach vorwärtsmachen?

Die dritte Option aber wäre: Man macht einfach mal fürschi. Und setzt Dinge um, die eigentlich auf der Hand liegen. Lässt unkonventionelle Ideen spriessen und florieren. Stellt sich auf den Kopf und schaut, was dabei heraus rieselt.
Genau das haben die die folgenden Unternehmen, Projekte und Innovationen gemein. Jede einzelne von ihnen rettet die Welt nicht. Doch wie schrieb schon Ovid? «Gutta cavat lapidem».
Hier zehn gute Tropfen aus der jüngsten Zeit.

1. Decathlon und Bosch: Vermieten statt verkaufen

Ein Mountainbike, ein Gummiboot, eine Bohrmaschine, ein Kärcher für den Terrassenboden: Dinge, die jeder mal braucht, aber niemand besitzen muss. Monatelang stehen sie im Keller und kommen maximal drei Mal im Jahr an die frische Luft.
Firmen wie Decathlon in Belgien oder Bosch in Deutschland haben erkannt: Sportausrüstungen oder Handwerkertools lassen sich besser vermieten statt verkaufen. Damit lässt sich nämlich Geld verdienen, und der Umwelt dienen. Ob im Abo wie bei Decathlon oder per Bestellung wie bei Boschs «Blue»-Movement.
Knackpunkt: Nehmen Konsumenten in ausreichender Zahl Verleihangebote an, um diese wirtschaftlich betreiben zu können?

2. Selfridges: Flicken und dann Wiederverkaufen

Londosn Tempel des gehobenen Konsumismus, Selfridges, erfindet sich derzeit neu. Weniger verkaufen, dafür mehr vermieten, reparieren, wiederverwerten, tauschen. Das noble Warenhaus will zu einer Tauschplattform werden. «Unsere Vision ist es, den Detailhandel neu zu erfinden», erklärt Managing Director Andrew Keith.
Konkret: Bis 2030 sollen sich die Hälfte der Kundenkontakte um Wiederverkauf und Occasions-Geschäfte, um Reparaturen, Vermietungen oder Refills – also Nachfüllungen – drehen sollen.
Eigentlich ist es eine Rückkehr zur Tradition: Daran, dass man einst Kosmetika-Behälter in Geschäften wieder auffüllen lassen konnte, mögen sich noch Hundertjährige erinnern. Geräte zur Reparatur bringen, ist zumindest theoretisch heute noch möglich – auch wenn das Flicken oft mehr kostet als ein neues Gerät.
Knackpunkte: Wie viel Ersparnis schaut für den Konsumenten heraus? Und können sie der Jagd nach den neuesten Modellen wiederstehen?
  • Zum Thema: Mieten statt kaufen: Ein zweiter Frühling für das ewige Nebengeschäft.

3. Kaufland: Regional, aber radikal

Der deutsche Schwarz-Konzern, zu dem die Detaillhandelsmarken Kaufland und Lidl gehören, baut in Bayern ganzjährlich typisches Südgemüse an: Peperoni und Tomaten etwa, auch Erdbeeren. Damit müssen diese im Winter nicht mehr aus Südeuropa importiert werden. Der Standort bietet Geothermie und Sonnenenergie, um das 22 Fussballfelder grosse Gewächshaus zu heizen. Regen wird gespeichert und dient der Bewässerung.
image
Peperoni-Ernte in Bayern   |   Bild: PD Kaufland
Knackpunkt: Die Migros wollte im Wallis auf 28 Fussballfeldern ein ähnliches Projekt verwirklichen, scheiterte 2019 aber am Widerstand von Bevölkerung, Gemüsebauern und Umweltschützern. Wie also schafft man Akzeptanz für solche Grossprojekte?

4. Freitag: Rezyklierte Rohstoffe kreislauffähig machen

Viel nachhaltiger als Freitag-Taschen geht nicht, denkt man. Sie werden aus gebrauchten Lastwagenblachen gefertigt. Doch Freitag denkt weiter: Warum nicht Lastwagenblachen herstellen, die – nach ihrem ersten Einsatz – ideal fürs Taschenmachen sind? Das Projekt ist quasi Kreislaufwirtschaft im Rückwärtsgang.
Knackpunkt: Was macht Freitag mit ausgedienten Taschen? Lastwagenblachen? Aber angesichtes der Langlebigkeit der Produkte bleibt noch Zeit, sich etwas Neues auszudenken.

5. Rave Review: Mode aus weggeworfenen Textilien

Es gibt Start-ups wie Renewcell, die aus alten Textilien neue Stoffe weben. Das ist recht aufwändig. Anders geht das Designerduo Rave Review vor: Es sammelt weggeworfene Kleidungsstücke ein und schneidert daraus neue Mode. Im Desigual-artigen Patchwork-Stil, der zeigt, was Sache ist. Wobei der Waschmaschinenhersteller-Electrolux technisch unterstützt. Die Kunden des Labels gehen also nicht in Sack und Asche durch die Welt, sondern in sorgfältig neu designten Klamotten.
Imagefilm: Kleider aus der Atacama-Wüste in Chile.
Knackpunkte: Bisher kosten die neuen Kleider bis zum Zehnfachen dessen, was durchschnittliche Konsumenten zu zahlen bereit sind. Und was geschieht mit Stücken der Fast Fashion, die schon nach zweimaligen Anziehen auseinanderfallen?

6. Anheuser-InBev: Plastikabfall wird zu Bierkisten

Einige Mehrweg-Bierkisten von Corona – die zu Anheuser-InBev gehören – bestehen zu neun Zehnteln aus rezykliertem Kunststoff, der aus dem Meer gefischt wurde: alte Netze, Seile und Leinen, Petflaschen und Autoreifen. Wenn es im Kleinen geht, sollte auch mehr möglich sein. Warum also nicht gleich die ganze Kistenproduktion umstellen?
image
Knackpunkt: Ziel sollte es eigentlich sein, die Gewässer nicht vollzumüllen. Zum Beispiel mit Bierkisten aus Kunststoff. Warum also nicht gleich auf ein Material umstellen, das sich zum Beispiel kompostieren lässt?

7. Seifen und Schuhe: Aus CO2 wird was

CO2 ist nicht weniger im Gespräch als das Wort Nachhaltigkeit. Wenn es zu sinnvollen Waren verarbeitet wird, könnte sich sein Ruf schon bald etwas bessern. Neben dem kürzlich präsentierten und noch nicht käuflichen Schuh Cloudprima des Schweizer Herstellers On gibt es seit längerem Seife aus CO2 zu kaufen. Das Start-up CleanO2 liefert sie für 8 Dollar das Stück nach Hause (vorerst in die USA und nach Kanada).
Knackpunkt: Siehe Ovid. Oder genauer: Das sind Tropfen auf dem heissen Stein. Wie viel Seife und wie viele Turnschuhe müssten hergestellt werden, um den weltweiten CO2-Überschuss auch nur ein bisschen zu dämpfen?

8. Seifen statt Petflaschen: Verpackung neu denken

Und wenn wir schon dabei sind: Warum nicht Shampoo oder Duschgel in Seifen packen? Das gibt es schon länger, zum Beispiel vom Hersteller Flow oder bei Lush. Jetzt steigt auch der Grosskonzern Procter & Gamble mit seinen Gross-Marken Head & Shoulders, Pantene, Herbal Essences und Aussie ein. Ein Zeichen dafür, dass in ein paar Jahren vielleicht nur noch ein Seifenhalter statt eine Batterie von Plastikbehältern in den Badezimmern herumsteht.
Knackpunkt: Auch Seifen benötigen eine Verpackung.

9. Bananenschalen ins Guetzli: Essen, was bisher unessbar war

Es ist bisher nur ein wissenschaftlicher Versuch. Doch US-Forscher gelang es, Bananenschalen nicht nur in Guetzli zu verwandeln, sondern diese auch gesund (faserreiche Kost) und schmackhaft zu gestalten: Bei einem Testpublikum kamen die Bananenfaser-Kekse besser an als herkömmliche reine Weizenprodukte.
Nach den Bananenschalen könnte die Suche nach neuen, nachhaltigen Zutaten bald schon zu den Hüllen von Zitrusfrüchten, Ananas oder Papaya führen.
Knackpunkt: Bananenschalen recyceln – tönt gut. Aber wie kommen die Schalen en masse von der heimischen Küche in die Guetzlifabrik?

10. Vetropack: Zurück zum Mehrweg solideren Flaschen

Es ist härter, leichter und weniger schnell verkratzt als herkömmliches Flaschenglas. Die Bülacher Verpackungsexperten von Vetropack haben mit Echovai ein Produkt auf den Markt gebracht, das das Zeug zum Glas-Revoluzzer hat. Und zur Rückkehr des Mehrwegglases führen könnte. Denn wer wirft schon gerne ein Glas in den Recyclingcontainer, das über Jahre hinweg wie neu aussieht?
Knackpunkt: Bis alle herkömmlichen Glasflaschen durch solche aus dem neuen Material ersetzt sind, wird es noch viele Jahre dauern.

  • esg
  • industrie
  • handel
  • food
  • non-food
Artikel teilen

Loading

Comment

Home Delivery
1 x pro Woche. Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Auch interessant

image

Denner: +1.1 Prozent. Fenaco: +1.2 Prozent.

Die ersten Signale aus der Lohnrunde im Detailhandel stellen klar: Es reicht bestenfalls für den Teuerungsausgleich. Und auch das nur knapp.

image

Unilever streicht deutlich weniger Jobs als befürchtet

Im Sommer plante der Konsumgüter-Gigant noch den Abbau von 3'200 Stellen. Nun dürften noch halb so viele Jobs betroffen sein.

image

Was ist der direkteste Weg zur Würfelbouillon?

Eine britische App führt die Kunden durch den Supermarkt – entlang dem Einkaufszettel. Auf Wunsch auch nach dem Prinzip Kochbox.

image

Temu und Shein: 13 Verbände fordern den Bundesrat zum Handeln auf

Dabei soll die Regierung möglichst noch vor dem Weihnachtsgeschäft ein deutliches Signal aussenden.

image

Das Pflanzen-Steak darf Steak genannt werden

Und Veggie-Wurst ist Wurst: Das oberste Gericht der Europäischen Union wandte sich gegen die Fleisch- und Milch-Lobby. Ein Entscheid, der auch fürs Marketing in der Schweiz bedeutsam ist.

image

Parkplätze vor dem Laden? Lieber nicht!

Neue Daten zur ewigen Parkplatz-Debatte: In Shopping-Zonen könnten parkierte Autos den Einkaufsbummel eher verderben.